CfP: "Sozioökonomie der Sexualitäten" (DL: 31.10.2021)

01.10.2021

Die 3. Jahrestagung "Arbeitskreis Sexualitäten in der Geschichte" findet am 29./30. April 2022 an der Universität Wien statt und wird u.a. von Franz X. Eder, Paul Horntrich und Nora Lehner organisiert.

Call for Papers (PDF)

Mit der 3. Jahrestagung des Arbeitskreises Sexualitäten in der Geschichte (AKSG) möchten wir das Interesse auf zwei, wie wir meinen, bislang in der deutschsprachigen und internationalen Sexualitätsgeschichte vernachlässigte Kategorien lenken, nämlich das Soziale und Wirtschaftliche. Mit „Sozioökonomie“ verwenden wir einen Begriff, der in „beide Richtungen“ gelesen werden kann und die Interaktion von Gesellschaft und Wirtschaft betont.

Sozioökonomie der Sexualitäten. 3. Jahrestagung Arbeitskreis Sexualitäten in der Geschichte

Veranstaltungsort: Universität Wien
Datum: 29.–30. April 2022
Deadline für den Call: 31. Oktober 2021
Veranstalter:innen: Sebastian Bischoff (Universität Paderborn), Franz X. Eder (Universität Wien), Paul Horntrich (Universität Wien), Julia König (Johannes Gutenberg-Universität Mainz), Nora Lehner (Universität Wien), Dagmar Lieske (Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main)

Seit den sittengeschichtlichen Werken des späten 19. Jahrhunderts interessieren sich Sexualitätshistoriker:innen vor allem für die Kultur des Sexuellen und für dessen politische Disziplinierung, Modellierung und Hervorbringung. Dementsprechend elaboriert gestaltet sich der Forschungsstand, wenn es um sexuelle (Be-)Deutungen, Normen und Sinngebungen sowie um Konstruktionen, Wissensbestände und Diskurse von bzw. über Sexualität/en geht. Sexuelle Skripts, Rollen, Identitäten, Ideologien und Mythologien werden genauso in den Fokus gekommen wie politische Sexualregime, der Wandel von Rechtsnormen und die Gouvernementalität des Sexuellen.

Gesellschaft meint dabei Formen der Vergemeinschaftung auf Mikro-, Meso- und Makroebene, die zu sozialen Strukturen und Gruppenbildungen führen, sich manifestieren und fortschreiben, aber auch in Ungleichheit und Konflikten, Revolten und Revolutionen münden können. Soziale Akteur:innen handeln dabei in ihrer ‚Lebenswelt‘, geprägt durch individuelle Erfahrungen und soziale Praxis. Auch wenn sich ihre Wirklichkeit aus den sozialen, wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Strukturen ergibt und beschreiben lässt, können sie diese durch ihr Handeln verändern und eigen-sinnig agieren – soziale Praxis ist deshalb als bestimmt und bestimmend zu verstehen. Soziale Zugehörigkeit und Ungleichheit basieren unter anderem, aber keinesfalls ausschließlich, auf materiellen und wirtschaftlichen Gegebenheiten und Differenzen.

Unter Wirtschaft verstehen wir Strukturen und Prozesse, die der Produktion, Distribution und Konsumption von Gütern und Dienstleistungen dienen und mit deren Aneignung, Besitz und Verfügbarkeit einhergehen. Eine wirtschaftshistorische Perspektive fokussiert dabei auf Akteur*innen und Institutionen sowie die technischen und medialen Grundlagen wirtschaftlichen Agierens, die Funktion von Märkten, Löhnen und Preisen, die Vernetzung kleiner wie großer Produzent:innen, Händler:innen, Mediateur:innen, Käufer:innen und Verbraucher:innen und die Entstehung und Verbreitung des (Massen-)Konsums.

Für manche Erscheinungsformen des Sexuellen liegen die sozioökonomischen (Rahmen-) Bedingungen auf der Hand: Tauschhandel und Bezahlung bilden die Grundlage sexueller Dienstleistungen in der Prostitution/Sexarbeit; ohne die Entstehung informeller und offizieller Märkte hätten sich die erotische und pornografische Literatur und Kunst nie in dem Maße verbreiten können, wie dies seit der Renaissance und Aufklärung der Fall war; unter dem ‚Ladentisch‘ oder legal verkaufte Verhütungsmittel wie Kondome, Portiokappen und die ‚Pille‘ sowie ‚Sex-Objekte‘ wie Dildos, Gleitcremen und Vibratoren haben seit dem 17. und 18. Jahrhundert die sexuellen Praktiken mehr verändert, als uns dies normative Quellen vermitteln können. Dass die Zugehörigkeit zu gesellschaftlichen Gruppen, Schichten und Klassen und die sozial geprägte Geschlechter- und Generationenordnung den Möglichkeitsraum und die Skripts des Sexuellen (mit-)bestimmen, gehört zu den Prämissen der Sexualitätsgeschichte – auch wenn sozial-differenzierende Studien bislang noch überschaubar sind. Sozioökonomische Faktoren bildeten auch das Raster, auf dem soziale Traditionen, Skripts und Praktiken und der sexuelle Spielraum von Ehrbarkeit, Sittlichkeit und Respektabilität, aber auch jegliche Formen der Unmoral und Devianz eingeschrieben waren. Mehr noch als heute eröffneten in früheren Jahrhunderten der soziale Stand und Status sowie die wirtschaftliche Situierung und (Ohn-)Macht einer Person und Gruppe recht unterschiedliche Optionen für sexuelles Begehren, Wissen und Handeln.

Markante gesellschaftliche und wirtschaftliche Veränderungen hatten meist einen Wandel im Sexualregime, der Sexualkultur und den sexuellen Praktiken zur Folge. So ging im Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit die Etablierung des Städtebürgertums und Handelskapitalismus nicht nur mit dem Humanismus und der Reformation einher, sondern auch mit der Sozialdisziplinierung, die weit hinein in das sexuelle Alltagsleben reichte. Urbanisierung und Industrialisierung führten im 18. und 19. Jahrhundert nicht nur zu einer Pauperisierung und sozialen Ausdifferenzierung, sondern auch zu neuen sexuellen Möglichkeiten und Beziehungen in der Arbeiterschaft und den unteren städtischen Schichten. Nach dem Zweiten Weltkrieg bewirkte das ‚Wirtschaftswunder‘ bzw. die Verwestlichung und Amerikanisierung von Gesellschaft und Wirtschaft eine Kommodifizierung, Vermarktlichung und Medialisierung der Sexualkultur, die wir heute als Liberalisierung, Sexualisierung oder Sexuelle Revolution etikettieren – und an deren Ideologie der ‚sexuellen Befreiung‘ wir berechtigte Zweifel haben. Die Geschichte der LGBTIQ+-Bewegungen kann, kritisch gelesen, auch als eine des „Rainbow Capitalism“ verstanden werden, in dem nicht-heteronormative Sexualpraktiken und -diskurse kommerzialisiert und dabei gesellschaftlich normalisiert werden.

Um keinen falschen Eindruck zu erzeugen: Auch die Sozioökonomie der Sexualitäten lässt sich nicht ohne kultur- und politikgeschichtliche Perspektiven und Ansätze erforschen und darstellen. Bei der 3. Jahrestagung des Arbeitskreises Sexualitäten in der Geschichte sollen diese keinesfalls ausgeklammert bleiben, aber gegenüber einer sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Sicht auf das Sexuelle in den Hintergrund rücken. Anregen möchten wir Beiträge und Einreichungen, die sich die Darstellung der Interaktion und Verflechtung historischer Sexualitäten mit dem Sozialen und Ökonomischen zum Ziel setzen.

Explizit erwünscht sind auch Referate, in denen über den deutschsprachigen oder europäischen Raum hinausgeblickt oder eine transregionale oder globalgeschichtliche Sicht eingenommen wird. Ebenfalls anregen möchten wir Papers zur Sozioökonomie der Sexualitäten in Antike, Mittelalter und Früher Neuzeit – und natürlich zum 19., 20. und 21. Jahrhundert. Wir freuen uns auch sehr über Einreichungen von Doktorierenden, die ihre Forschungsergebnisse vorstellen.

Formales:

Die Tagungssprache ist Deutsch; Vorträge können aber auch in englischer Sprache gehalten werden. Wir laden ein, Abstracts (2.500 Zeichen) mit einer kurzen Autor:innenangabe bis zum 31. Oktober 2021 an Paul Horntrich zu senden; E-Mail: paul.horntrich@univie.ac.at

Für die Referent:innen werden die Übernachtungskosten übernommen.

Zum aktuellen Zeitpunkt planen wir eine Tagung vor Ort in Wien, sollten die Maßnahmen bzgl. der Covid19-Pandemie dies nicht ermöglichen, ist eine Tagung im Online-Format angedacht.

Da sich bei der letzten Jahrestagung die Einreichung vorab aufgezeichneter Vorträge bewährt hat, wollen wir eine ähnliche Vorbereitung wählen: Dieses Mal sollen Vorbereitungspapers (von ca. 10 Seiten) verfasst werden, die 10 Tage vor der Tagung an die Veranstalter:innen gesandt und dann zur allgemeinen Lektüre an die Teilnehmer:innen weitergegeben werden. Bei der Tagung werden in einer ca. 10minütigen Präsentation die zentralen Fragestellungen, Thesen und Ergebnisse resümiert und anschließend ausführlich diskutiert.

Angedacht ist die Veröffentlichung aller oder einiger Beiträge in einem (peer reviewed) Sammelband, der rasch erscheinen soll – Deadline für die Abgabe der Beiträge ist 31. Juli 2022.