Nachruf auf em. o. Univ.-Prof. Dr. Josef Peter Ehmer (1948–2023)

15.05.2023

Der Sozialhistoriker Josef Ehmer ist am 10. Mai 2023 unerwartet im 75. Lebensjahr in Wien verstorben. Die Verabschiedung findet am Freitag, den 26. Mai 2023 um 13 Uhr in der Feuerhalle Simmering in Wien statt.

Parte Josef Ehmer (pdf)

Wir trauern um einen hochgeschätzten Kollegen, Mentor, Freund und Lehrer. Josef Ehmers sanfter Charakter und sein scharfer Intellekt werden uns immer in Erinnerung bleiben. Für viele von uns bleibt das Gefühl, dass mit seinem Ableben eine ganze Welt aus unserer Welt tritt. Josef Ehmer verband in für uns einzigartiger Weise persönliche Erfahrungen, Reflexionen und schier unendlich scheinendes historisches und methodisches Wissen. Viele von uns werden mit Josef/Sepp in Gedanken weiter im Gespräch bleiben. Was hätte er dazu gedacht, gesagt?

Josef Ehmer wurde am 7. November 1948 in Gschwandt bei Gmunden in Oberösterreich geboren. Seine Eltern waren politisch als Kommunist:innen engagiert. Seine Mutter wurde im Nationalsozialismus als Kommunistin und Widerstandskämpferin verhaftet und kam 1945 körperlich schwer versehrt aus einem Lager zurück. Der Vater war als Soldat im Krieg, Bruno, der ältere Bruder von Josef, blieb während der Lagerhaft der Mutter als Kind elternlos zurück. Die Eltern empfanden den spätgeborenen zweiten Sohn als Geschenk, Josef wuchs mit seinem Bruder und seinen Eltern in proletarischen Verhältnissen auf. 

Josef Ehmer zeichneten als Wissenschaftler sein eigenständiger und wacher Geist und seine große Belesenheit aus. Sein Weg als Lesender begann bereits in jungen Jahren, da er nach einer langwierigen schweren Erkrankung als Kind und Jugendlicher viel Zeit mit Büchern in und aus der Stadtbibliothek Gmunden verbracht hatte. Dem damaligen Bibliothekar, der ihn zum Lesen anregte, war Josef Ehmer immer in Dankbarkeit verbunden.

Nach der bestandenen Matura am Bundesgymnasium in Gmunden begann Josef Ehmer 1968 das Studium der Geschichte und Germanistik an der Universität Wien. Während seiner Zeit als Student lernte er 1973 Erika („Riki“), seine spätere Ehefrau, kennen und lieben, mit der ihn von da an eine lebenslange innige Partnerschaft verband. Mit einer Doktorarbeit zur Familienstruktur und Arbeitsorganisation im frühindustriellen Wien schloss er 1977 sein Studium ab. Die Themensetzung am Beginn seiner wissenschaftlichen Karriere spiegelte auch seine Herkunft aus der Arbeiterklasse und seine damaligen politischen Überzeugungen als Kommunist wider. Als die antistalinistischen Reformbestrebungen in der kommunistischen Partei Österreichs nach seiner Wahrnehmung definitiv scheiterten, verließ er Anfang der 1990er-Jahre die KPÖ und unterzog seine bisherigen politischen Überzeugungen einem fortdauernden Reflexionsprozess. Die Sozialgeschichte von Arbeiter:innen und Handwerker:innen blieb aber stets ein Schwerpunkt seiner wissenschaftlichen Arbeiten.

Außerdem wurden die Anfänge seines akademischen Lebens von Michael Mitterauer (1937–2022) stark geprägt und beeinflusst, der ihn auch bei seiner Doktorarbeit betreute und unterstützte. Die in dieser Zusammenarbeit erworbenen Kenntnisse und Kompetenzen wurden zu einer wichtigen Grundlage seines wissenschaftlichen Arbeitens. 1995 wurde Josef Ehmer mit dem Victor-Adler-Staatspreis für die Geschichte sozialer Bewegungen ausgezeichnet. Seine Projekte und Initiativen, seine Vorträge und die zahlreichen Publikationen hatten stets auch einen Bezug zur Gegenwart, waren in internationale Forschungszusammenhänge eingebunden und stießen europa- und weltweit auf breite Resonanz. Interdisziplinarität und gesellschaftliche Relevanz waren für Josef Ehmer niemals nur Worte, sondern gelebte wissenschaftliche Praxis in Forschung und Lehre.

Schon kurz nach Beendigung seines Studiums trat er 1978 eine Stelle als Forschungsassistent, später als Universitätsassistent und Dozent, am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien an. Gemeinsam mit Reinhard Sieder und anderen war er Mitarbeiter in einem von Michael Mitterauer geleiteten und vom FWF finanzierten Forschungsprojekt zum Thema „Familie im sozialen Wandel. Historisch-soziologische Untersuchungen zu strukturellen und funktionalen Veränderungen der Familie in den letzten Jahrhunderten“. Dies schuf die Grundlage für ein weiteres großes Forschungsprojekt zum „Strukturwandel der Familie im europäischen Vergleich“, finanziert Ende der 1980er-Jahre von der Volkswagenstiftung; hinzu kam das Projekt „Quantifizierung in der historischen Forschung und Lehre und im computerunterstützten Geschichtsunterricht“, in dem auch Franz X. Eder seine wissenschaftliche Karriere begann. Hier entstand unter anderem die „Wiener Familiendatenbank“, die auch heute noch am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte benutzbar ist. 

Im Rahmen dieser Projekte stellte Josef Ehmer viele internationale Kontakte her, die ihn sein Leben lang begleiten sollten: zum Max-Planck-Institut für Geschichte, hier vor allem zu Jürgen Schlumbohm, Hans Medick, Peter Kriedte und auch zu Manfred Thaller von der Abteilung für historische Fachinformatik. In diesem Kontext wurde er zu einem wichtigen Lehrenden der, von Gerhard Botz gegründeten, Sommerkurse „Neue Methoden in der Geschichtswissenschaft“ in Salzburg ab den 1980er-Jahren. Weitere internationale Verbindungen knüpfte er zu Karin Hausen in Berlin, zur Cambridge Group of the History of Population and Social Structure, insbesondere zu Peter Laslett (1915–2001), Richard Wall (1944–2011), Kevin Schürer und Sheilagh Ogilvie. Im Rahmen des Schwerpunktprogramms 1106 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft leitete er zwischen 2001 und 2008, gemeinsam mit Rainer Mackensen (1927–2018), Forschungsprojekte zu „Ursprünge, Arten und Folgen des Konstrukts ‚Bevölkerung‘ vor, im und nach dem ‚Dritten Reich‘“ sowie in der Arbeitsgruppe „Altern in Deutschland“ der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina gemeinsam mit Jürgen Kocka. In den späteren Jahren waren ihm vor allem die Kontakte zum Internationalen Geisteswissenschaftlichen Kolleg „Arbeit und Lebenslauf in globalgeschichtlicher Perspektive“ in Berlin und dort zu Andreas Eckert und vielen anderen mehr besonders wichtig. Josef Ehmers internationale wissenschaftliche Reputation profitierte von diesem Austausch und den zahlreichen Forschungsaufenthalten, so etwa an der LMU München (1974–1975), an der University of Cambridge (1987–1989) und am Max-Planck-Institut für Geschichte in Göttingen (1984–1986); später kamen Gastprofessuren am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin (1990–1991), am European University Institute in Florenz (1997–1998 und 2002–2003) sowie als Visiting Fellow an der University of Cambridge (2008) und auch nach seiner Emeritierung am Internationalen Geisteswissenschaftlichen Kolleg „Arbeit und Lebenslauf in globalgeschichtlicher Perspektive“ an der Humboldt-Universität zu Berlin (2010–2011) hinzu.

Nach dem Abschluss seiner Habilitation zum Thema Heiratsverhalten, Sozialstruktur, ökonomischer Wandel erhielt Josef Ehmer einen Ruf an die Universität Salzburg, wo er von 1993 bis 2005 als ordentlicher Universitätsprofessor für Allgemeine Neuere Geschichte, aber auch als Institutsleiter und Vizestudiendekan tätig war. Nach der Emeritierung von Michael Mitterauer trat Josef Ehmer 2005 dessen Nachfolge als Universitätsprofessor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Wien an. Bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2015 war er am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte ein von allen geschätzter und Menschen verbindender Kollege, Leiter zahlreicher Forschungsprojekte und vielbeschäftigter Institutsvorstand, der stets ein offenes Ohr für die Anliegen von Kolleg:innen und Studierenden hatte. In der ihm eigenen großen Offenheit integrierte und förderte er unterschiedliche wissenschaftliche Bestrebungen und Wissenschaftler:innen.

Josef Ehmer war ein begnadeter Lehrender. Seine lebhaften und gut strukturierten Vorlesungen und Lehrveranstaltungen zur Bevölkerungs-, Arbeits- und Migrationsgeschichte, zur Geschichte des Handwerks, der Protoindustrialisierung, der Industrialisierung und der Historiographie der Bevölkerungswissenschaften sowie des Alters fanden immer eine breite Zuhörer:innenschaft. Besonders beliebt waren in den späten 1980er-Jahren seine ersten Übungen zur Einführung in die Quantifizierung für Historiker:innen. Es bedurfte einiges an Überzeugungsarbeit, um dort einen Platz zu bekommen, da der Zugang zu den damaligen Großrechnern beschränkt war. Nie werden einige von uns vergessen, wie wir damals oft wochenlang als eine Gruppe junger Studierender im Keller des Neuen Institutsgebäudes an den grün oder orange schimmernden Bildschirmen mit meterlangen Lochpapierausdrucken gesessen sind und uns mit Sozialstrukturen im 18. und 19. Jahrhundert beschäftigt haben. Besonders prägend war für eine ganze Gruppe von Studierenden das gemeinsam mit Franz X. Eder Ende der 1980er-Jahre durchgeführte Projektstudium, das sich über ein ganzes Studienjahr der Analyse sozialer Schichtungen im städtischen und ländlichen Raum widmete und in einer Exkursion zu historischen Produktionsstätten in der damals gerade noch existierenden DDR (Mai 1990) gipfelte. Viele der damaligen Studierenden haben Josef Ehmer auch weiterhin begleitet: Markus Cerman (1967–2015), Annemarie Steidl, Sigrid Wadauer, Werner Lausecker, Hermann Zeitlhofer und Herbert Posch. Dieses Projektstudium dokumentierte schon damals Josef Ehmers besondere Fähigkeit, methodenorientierte Forschung in innovativen Formen der Lehre zu vermitteln. Hier zeigte sich bereits sein herausragendes Engagement, das sein weiteres akademisches Leben prägen sollte: Studierende und junge Wissenschaftler:innen zu fördern, ihnen Arbeitsmöglichkeiten zu eröffnen und sie dabei zu unterstützen, eigenständige Perspektiven zu entwickeln. 

Josef Ehmer schuf Gestaltungsräume, die über die Jahrzehnte vielen in seinem wissenschaftlichen Umfeld zugutekamen: Diplom- und Lehramtsstudierenden, den zahlreichen Doktorand:innen aus unterschiedlichen Ländern, den Mitarbeiter:innen seiner vielen Forschungsprojekte sowie an Fortbildung interessierten Lehrer:innen. Unter anderem war Josef Ehmer Mitinitiator zahlreicher Fortbildungsseminare für engagierte Lehrer:innen, aus denen später der Hochschullehrgang „Politische Bildung“ entstand. Dem Beispiel Mitterauers folgend, erkannte er früh das Potenzial der Drittmittelförderung, ob vom FWF, der DFG oder der deutschen Volkswagenstiftung, setzte damit neue Themen in der Handwerks-, Migrations- Demografie- und Wissenschaftsgeschichte, erschloss neue Quellen und erprobte innovative Methoden. Das wissenschaftliche Weiterkommen seiner Mitarbeiter:innen stand für Josef Ehmer immer an erster Stelle und er schuf damit für viele junge Kolleg:innen Chancen auf akademische Karrieren. Im Rückblick fällt dabei auf, dass viele junge Wissenschaftler:innen die Bestärkung und Förderung von Josef Ehmer suchten und fanden, deren soziale Herkunft sie nicht bereits für eine wissenschaftliche Karriere prädestinierte. Auch das ist im akademischen Leben alles andere als selbstverständlich.

Josef Ehmer förderte bewusst wissenschaftliche Karrieren von Frauen. Bereits in den 1990er-Jahren, als der Anteil von Historikerinnen an den einschlägigen Instituten der österreichischen Universitäten noch ziemlich gering war, war er es, der jungen Kolleginnen wie etwa Sylvia Hahn und Ingrid Bauer, später in seiner Zeit als Universitätsprofessor in Wien Therese Garstenauer oder auch Juliane Schiel, um hier nur einige noch nicht Erwähnte zu nennen, Möglichkeiten für ihr berufliches Fortkommen mit eröffnete. Die jüngeren Kolleg:innen dankten es ihm auch damit, dass sie ihn – gemeinsam mit dem Engagement seiner Ehefrau Riki – dabei unterstützten, sein Bewusstsein für Fragen der Gleichberechtigung der Geschlechter, auch im akademischen Alltag, weiter zu schärfen. Ausdruck seiner Verbundenheit mit Kolleginnen waren auch die engen Freundschaften mit Edith Saurer (1942–2011) und Angiolina Arru. 

Mit seinen über Zeit und Raum breit gestreuten Forschungsschwerpunkten hat Josef Ehmer zu zentralen Debatten der internationalen Wirtschafts- und Sozialgeschichte wesentliche Beiträge geleistet. Sein Hauptinteresse galt dem langfristigen sozioökonomischen Wandel in der Neuzeit im europäischen Vergleich. Zu Beginn seiner wissenschaftlichen Karriere waren es Arbeiter:innen und Handwerker:innen, die im Fokus seiner sozialwissenschaftlichen Untersuchungen standen, später traten verstärkt Fragen der Historischen Migrationsforschung in den Mittelpunkt. Mit seinem Umzug an die Universität Salzburg rückten in der ersten Hälfte der 1990er-Jahre immer mehr Fragen der Bevölkerungsgeschichte und Historischen Demographie ins Zentrum seines Interesses. Dabei war es ihm ein zentrales Anliegen, die Grundlagen historischen Denkens anhand der Bevölkerungswissenschaften kritisch in wissenschaftsgeschichtlicher Sicht zu reflektieren. In dem Zusammenhang begann auch seine langjährige enge Zusammenarbeit mit Alexander Pinwinkler.

Bereits 1990 erschien ein schmales rotes Bändchen beim Suhrkamp Verlag zur Sozialgeschichte des Alters, ein Forschungsbereich, der, ebenso wie die Geschichte des Lebenslaufs, die späten Jahre seines wissenschaftlichen Werkes bestimmen sollte. Dieses breit gefächerte historische Forschungsfeld spiegelt sich auch in seinen unzähligen Publikationen wider, sei es der 1994 veröffentlichte Band Soziale Traditionen in Zeiten des Wandels. Arbeiter und Handwerker im 19. Jahrhundert oder die 2013 in erweiterter zweiter Auflage erschienene Bevölkerungsgeschichte und Historische Demographie 1800–2000. Josef Ehmers Publikationsliste zeichnet sich auch durch die Herausgabe von unzähligen Sammel- und Konferenzbänden aus, in denen es ihm stets ein Anliegen war, neben versierten Kolleg:innen auch jungen Nachwuchswissenschaftler:innen Publikationsmöglichkeiten zu schaffen. Stellvertretend sei hier einer seiner letzten Tagungsbände Borders and Mobility Control in and between Empires and Nation-States genannt, den er gemeinsam mit Jovan Pešalj, Leo Lucassen und Annemarie Steidl 2023 herausgegeben hat. Sein letzter Sammelband zu Life Course, Work, and Labour in Global History, der gemeinsam mit Carola Lentz im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit am Internationalen Geisteswissenschaftlichen Kolleg „Work and Human Lifecycle in Global History“ in Berlin entstanden ist, wird in den nächsten Wochen posthum erscheinen.

Vieles gäbe es noch zu sagen, viele Wegbegleiter:innen könnten noch genannt werden. Josef Ehmer war ein Historiker, der Sozial-, Wirtschafts- und Wissenschaftsgeschichte kritisch reflektierend verknüpfen konnte und Traditionsbildungen von Begrifflichkeiten und Theoremen in den Geschichtswissenschaften in prägnanter und systematischer Weise zu rekonstruieren verstand. Davon ausgehend konnte er neue methodische und konzeptionelle Perspektiven in angenehm klarer und schlichter Sprache formulieren und entwickeln.

Josef/Sepp, Du wirst für immer eine Lücke hinterlassen und in unseren Herzen, Gedanken und Erinnerungen weiterleben.

Annemarie Steidl & Werner Lausecker (unter Mitarbeit von Franz X. Eder, Therese Garstenauer und Alexander Pinwinkler)

Im Namen des Instituts für Wirtschafts- und Sozialgeschichte


Weitere Nachrufe:
Sabine Fuchs: Einer der Pioniere. Zum Tod des Sozial- und Wirtschaftshistorikers Josef Ehmer, in: Junge Welt, 19.5.2023, S. 5.

Uni Salzburg 

(15.5.2023)

Josef Ehmer bei der Podiumsdiskussion "Arbeit und Nicht-Arbeit" anlässlich seines 70. Geburtstages im November 2018.

Riki und Josef Ehmer