Nachruf auf ao. Univ.-Prof. i.R. Dr. Birgit Bolognese-Leuchtenmüller (1949–2022)

15.12.2022

Das Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte trauert um Birgit Bolognese-Leuchtenmüller, die am 9. Dezember 2022 mit 73 Jahren verstorben ist. Die Urnenverabschiedung findet am 5. Jänner 2023 um 11 Uhr am Friedhof Hietzing statt.

Parte Birgit Bolognese-Leuchtenmüller (pdf)
Ein Gedenkgottesdienst findet am Freitag, 13. Jänner 2023 um 18.30 Uhr in der Marienkirche in Perchtoldsdorf statt.

Wir trauern um Birgit Bolognese-Leuchtenmüller, die am 9. Dezember 2022 mit 73 Jahren verstorben ist. Birgit, einige nannten sie BBL, war eine Erscheinung: langes weißblondes Haar, ein markantes Gesicht mit markanter Brille. Was am stärksten in Erinnerung bleibt, ihre tiefe, rauchige Stimme, dazu ein immer gleiches Parfüm. Lange Zeit war sie die einzige Frau unter den wissenschaftlichen Mitarbeitern am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Das war ihr als emanzipierte Frau und Feministin durchaus bewusst; diese Situation zu verbessern, zu ändern war ihr ein wichtiges hochschulpolitisches Anliegen. „Frauen der ersten Stunde“ hieß eine ihrer frühen Publikationen, und eine solche war sie an der Universität Wien. In der Forschung stand sie für Frauen- bzw. Geschlechtergeschichte; ein weiterer Schwerpunkt lag auf der Medizingeschichte. In der Lehre war sie breit aufgestellt und besonders für ihre bei den Studierenden beliebten Vorlesungen bekannt, eine gute Rednerin war sie ohnehin. Bis zuletzt mischte sie sich in aktuelle gesellschaftspolitische Fragen ein und veröffentlichte Artikel. Als politisch engagiert, für die Frauensache kämpfend, vor allem aber als Freundin und geschätzte Kollegin wird sie uns in Erinnerung bleiben und von uns vermisst werden.

Birgit Bolognese-Leuchtenmüller wurde am 3. Juli 1949 in Wien geboren, wuchs in einem Wiener Gemeindebau auf und legte 1969 am Bundesrealgymnasium Wien 13 die Reifeprüfung ab. Danach begann sie an der Universität Wien Geschichte und Geographie zu studieren. Bereits die Wahl ihres Dissertationsthemas hat sie mit der Wirtschaftsgeschichte vertraut gemacht und sie ans Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte geführt. Ihre von Alfred Hoffmann betreute Arbeit über „Die Investitions- und Industriepolitik der österreichischen Großbanken bis zum Jahr 1914“ wurde 1973 an der Uni Wien approbiert.

Im Anschluss begann Birgit Bolognese-Leuchtenmüller ihre akademische Karriere am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der damaligen Hochschule für Welthandel (ab 1975 Wirtschaftsuniversität Wien), wo sie ab 1974 in einem Forschungsprojekt zur Wirtschafts- und Sozialstatistik Österreichs unter der Leitung von Herbert Matis als Vertragsassistentin beschäftigt war. Neben ihrem Schwerpunkt in der Wirtschafts- und Bankengeschichte hat sie sich früh der Bevölkerungsgeschichte zugewandt. 1975/76 initiierte und leitete sie eine Projektgruppe „Demographische und berufsstatistische Daten für Wien aus dem 18., 19. und 20. Jahrhundert“, die bereits am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien angesiedelt war. 1984 wurde sie Mitarbeiterin an unserem Institut und ist diesem bis zu ihrem Pensionsantritt treu geblieben. Nach der Pensionierung von Erna Patzelt (1959), die das Institut nach dem Zweiten Weltkrieg wiederaufgebaut hatte, war Birgit damit die erste Frau, die in den 1980er Jahren eine unbefristete Anstellung als wissenschaftliche Mitarbeiterin am WISO innehatte. Mit ihrer Habilitierung im Jahr 1986 über „Bevölkerungsentwicklung und Bevölkerungspolitik im gesellschaftlichen Wandel seit Mitte des 18. Jahrhunderts“ wurde sie 1988 zur Assistenzprofessorin und war ab 1999 bis zu ihrer Pensionierung 2013 a.o. Universitätsprofessorin für Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Ab 2001 war sie stellvertretende Vorständin des Instituts, 2003/04 Institutsvorständin. 

Birgits Forschungsschwerpunkte waren vielfältig. Galt ihr ursprüngliches Interesse Fragen der Wirtschafts- und Bevölkerungsgeschichte, wandte sie sich in späteren Publikationen der Frauen- und der Medizingeschichte zu, was etwa im von ihr 1985 herausgegebenen Band „Frauen der ersten Stunde 1945–1955“ oder in dem gemeinsam mit Michael Mitterauer 1993 herausgegeben Sammelband zu „Frauen-Arbeitswelten“ sichtbar wird. Im Jahr 2000 erschien ein Band unter dem Titel „Töchter des Hippokrates“, den sie gemeinsam mit Sonia Horn zum 100-jährigen Jubiläum des Medizinstudiums für Frauen an österreichischen Universitäten herausgegeben hat. Sie war eine Pionierin auf dem Feld der Geschichte der Fürsorge und gab gemeinsam mit Susan Zimmermann 1994 ein Themenheft von „L’Homme. Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft“ zu diesem Thema heraus. Zur 2001 stattgefundenen Ausstellung „Produkt Muttertag“ im Volkskundemuseum, die die rituelle Inszenierung dieses Festtages in den Blick nahm, beteiligte sich ebenfalls mit einem Beitrag am Katalog

Birgit war eine exzellente Vortragende, deren Lehrveranstaltungen nicht nur wegen der innovativen Themenwahl immer gut von Studierenden besucht waren. Neben der Bevölkerungsgeschichte hielt sie Vorlesungen und Seminare zur Frauengeschichte, zur Sozialgeschichte der Ernährung, schon sehr früh zu Klimageschichte, außerdem zu Gesundheit und Krankheit sowie auch zur Geschichte des Drogenkonsums.

Neben ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit war Birgit Bolognese-Leuchtenmüller eine Kämpferin für Feminismus und Frauenrechte und hat sich universitätspolitisch für die Rechte des wissenschaftlichen Personals, des sogenannten Mittelbaus, eingesetzt. Von 1984 bis 1988 war sie in dieser Funktion Generalsekretärin der Bundeskonferenz des wissenschaftlichen und künstlerischen Personals der österreichischen Universitäten und Hochschulen sowie Vorsitzende der dortigen UOG-Kommission. In einem Folder, der zum zehnjährigen Bestehen des Universitätsorganisationsgesetzes von ihr herausgegeben wurde, bedankte sie sich bei Hertha Firnberg, der früheren Wissenschaftsministerin, für dessen Zustandekommen. Denn dieses Gesetz ermöglichte den Mittelbauangehörigen erstmalig eine aktive Mitgestaltung sowie eine größere Identifikation mit den Universitäten. In einem Rückblick auf diese Zeit als Universitätspolitikerin schreibt Birgit, dass sie auch als Generalsekretärin niemals ihre Lehrtätigkeit ganz unterbrochen hat, weil die Zugehörigkeit zur Universität zu ihrem Selbstverständnis gehörte: Rückblickend würde ich meinen, daß eben diese Tatsache der doppelten Verankerung für mich den eigentlichen Reiz der Tätigkeit darstellte.“ Nach eigenen Aussagen hatte sie nach ihrem Ausscheiden aus der Bundeskonferenz die Möglichkeit, weiterhin im Wissenschaftsministerium tätig zu sein. In letzter Konsequenz hat sie sich für die wissenschaftliche Karriere am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universtität Wien entschieden, was nicht nur für die Kolleg:innen dort, sondern vor allem für die Studierenden und die universitäre Forschung im Allgemeinen ein großer Gewinn war.

Ich (Erich Landsteiner) habe mir mit Birgit fast zwei Jahrzehnte lang ein Büro am WISO geteilt. Nachdem ich als frisch eingefangener Assistent vier Jahre lang ein Zimmer für mich allein hatte – aus heutiger Sicht ein Luxus sondergleichen –, erforderte das personelle Wachstum des Instituts neue Arrangements. Es brauchte keine langen Debatten, bis Birgit und ich zusammenfanden, nicht zuletzt auch deshalb, weil wir beide bei der Arbeit dem Tabakgenuss frönten und das damals an der Uni noch erlaubt war. Unsere Schreibtische standen face-to-face; Desktop-PC gab es nur einen, weil Birgit konsequent eine Digitalisierung ihrer Arbeitsweise verweigerte. Wir haben unsere Anwesenheit so eingeteilt, dass wir nicht täglich einander gegenübersaßen, lediglich an den Mittwochen (Dienstbesprechung!) war das Büro doppelt belegt. Nach der DB und dem anschließenden Kaffee, bei dem sie sich von mir über die Vorfälle der ersten Wochenhälfte informieren ließ, hielt Birgit ihre Sprechstunde, die meist stark frequentiert war. Ich konnte dadurch miterleben, welche ungemein beliebte, herzliche und umsichtige Lehrerin Birgit war. Bisweilen entwickelten sich diese Sprechstunden zu Dreierkonferenzen, weil ich hinter meinem Bildschirm nicht den Mund halten konnte. Das war durchaus produktiv und den Anliegen der Sprechstundenbesucher:innen zuträglich - glaub ich jedenfalls rückblickend. Birgit, ich habe dich die letzten zehn Jahre vermisst, und jetzt noch mehr!

 

Peter Eigner, Erich Landsteiner und Annemarie Steidl

Im Namen aller Mitarbeiter:innen des Instituts für Wirtschafts- und Sozialgeschichte

Publikationen von Birgit Bolognese-Leuchtenmüller (pdf)



Birgit Bolognese-Leuchtenmüller, 2004 (Foto: E. Fuchs)

Birgit Bolognese-Leuchtenmüller (rechts) bei der Verleihung der Michael-Mitterauer-Preise 2008/09 (Foto: E. Fuchs)