Das Institut WISO
Das Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte betreibt in integrativer Form Forschung und Lehre in Wirtschaftsgeschichte, Sozialgeschichte und Kulturgeschichte sowie - im Verbund mit den anderen historischen Instituten - Geschichtsvermittlung. Es untersucht und lehrt wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklungen im globalen, nationalen, regionalen und lokalen Rahmen bis zur Gegenwart. Konventionelle Epochengrenzen werden dabei überschritten. Interkulturelle Vergleiche und die Erforschung globaler Zusammenhänge stellen ein besonderes Anliegen dar. Ziel der Institutsarbeit ist es, soziale, wirtschaftliche und kulturelle Phänomene in ihren Interdependenzen und politischen Implikationen zu verstehen und zu vermitteln. Mit diesem die Forschung und Lehre bestimmenden Leitbild hat das Institut an der Universität Wien und im nationalen sowie internationalen Vergleich ein eigenständiges Profil entwickelt. Akademische Lehre, Vorträge und Publikationen der Mitarbeiter/innen des Instituts richten sich an Adressat/inn/en innerhalb und außerhalb des wissenschaftlichen Bereichs (Studierende, Absolvent/inn/en, Lehrer/innen und andere Berufsgruppen). Ihr Engagement in der akademischen Lehre und in der Erwachsenen- und Berufsweiterbildung verstehen die Mitarbeiter/innen als demokratiepolitisches Engagement.
An der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät nimmt das Institut eine besondere Stellung ein, da sein Lehrangebot über die Studienrichtungen Geschichte bzw. Geschichte, Sozialkunde und Politische Bildung hinaus auch von vielen anderen Studienrichtungen unserer und anderer Fakultäten genützt wird. Dabei gewinnt das Institut sein eigenständiges Lehrprofil durch seine historisch-sozialwissenschaftliche und historisch-kulturwissenschaftliche Orientierung. Eine spezifische Lehraufgabe stellt sich durch die Betreuung des Faches Wirtschaftsgeschichte an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften im Rahmen der Magisterstudien IBWL, BWL und VWL.
Die Position des Instituts für Wirtschafts- und Sozialgeschichte in Österreich ist aus seiner Geschichte zu verstehen. 1922 gegründet und 1959 reaktiviert, war und ist es in Österreich das einzige Institut dieses Namens an einer geistes- bzw. kulturwissenschaftlichen Fakultät. Alle anderen Institute gleichen Namens sind an wirtschafts- bzw. sozialwissenschaftlichen Fakultäten angesiedelt. Daraus ergaben sich besondere Entwicklungsmöglichkeiten.
Wirtschaftsgeschichte, wie sie am Institut seit dessen Gründung betrieben wird, beschränkte sich nie auf ökonomistische Modelle oder auf die Geschichte wirtschaftlicher Institutionen. Sie beschäftigt sich mit den wirtschaftlichen Aspekten gesellschaftlichen Lebens und den wirtschaftlichen Beziehungen, die Individuen und soziale Gruppen eingehen. Sie untersucht die Akteure, speziellen Medien und Institutionen des Wirtschaftens in ihrer zeitlichen Veränderung, räumlichen Ausprägung und arbeitsteiligen Verflechtung sowie die sich daraus ergebenden Wirtschaftsformen und -systeme. Diese werden nicht isoliert, sondern eingebettet in die Gesamtheit gesellschaftlicher Beziehungen betrachtet. Wirtschaftsgeschichte diskutiert daher immer auch die politischen, sozialen und kulturellen Implikationen ökonomischer Phänomene und fragt, umgekehrt, nach den wirtschaftlichen Implikationen politischer, sozialer und kultureller Strukturen und Prozesse. Sie erfasst die Ausdifferenzierung unterschiedlicher Wirtschaftssektoren und deren institutionelle Rahmenbedingungen, die technischen, institutionellen und medialen Grundlagen wirtschaftlicher Prozesse, die Bildung und Funktionsweise von Faktor-, Güter- und Dienstleistungsmärkten, die zeitliche Entwicklung von Produktionsmengen, Löhnen und Preisen, die Geschichte einzelner Wirtschaftsunternehmen und Unternehmenskulturen (Business History) sowie die Aneignung und Verteilung des wirtschaftlichen Produktes in unterschiedlichen Epochen, Wirtschaftssystemen und -räumen.
Sozialgeschichte als Ansatz fokussiert die Entwicklung von sozialen Beziehungen und Gruppen in Gesellschaften auf Mikro-, Meso- und Makroebenen. Ihre Fragen beziehen sich vor allem auf Formen, Ursachen und Auswirkungen sozialer Ungleichheit und sozialer Konflikte, die auf materiellen Differenzen gründen, gleichwie auf Ungleichheiten, die sich aus geschlechtlichen, religiösen, ethnischen u.a. Zugehörigkeiten und Konstruktionen legitimieren. Sie rekonstruiert einerseits soziale Systeme und Strukturen wie Staaten, Städte, Gemeinden, Pfarren, Grundherrschaften, Haushalte u.v.a., andererseits soziales Handeln von individuellen und kollektiven Akteuren in solchen Systemen und Strukturen, wozu sie sich auch sozialwissenschaftlicher Konzepte wie "Lebenswelt", "soziale Wirklichkeit" und Kategorien wie Erfahrung, Praxis, Alltag bedient. Soziale Wirklichkeit konstituiert sich dabei zum einen aus den Gegebenheiten, die sich als Strukturiertheit oder Verfasstheit des Sozialen, des Wirtschaftens, des Politischen beschreiben lassen, zum anderen aber auch aus dem Handeln und Deuten der Akteure, die diese Strukturen vorfinden und durch ihr Handeln reproduzieren oder verändern. Letzteres misst den Wahrnehmungen, Deutungen und Bedeutungen, Mythen, Metaphern, Ritualen usw. soziale Relevanz zu.
Kulturgeschichte fokussiert den Anteil von Normen, Deutungen, Bedeutungen, Diskursen, Ideologien und Religionen bei der Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse sowie die Struktur von Wissensbeständen und (Be-)Deutungssystemen. Sie untersucht weiters die Konstruktion von individuellen und sozialen Identitäten über die Erzählung von Geschichte/n, insbesondere die Biographie, individuelle und "kollektive Gedächtnisse", "Orte der Erinnerung" etc. Sie untersucht regionale, nationale, europäische u.a. Mythologien sowie die gesellschaftliche Konstruktion und tendenzielle Durchsetzung von normativen Modellen für Familienleben, Sexualität, Kindererziehung, Jugend, Alter usw. Nicht zuletzt analysiert sie die Konstrukte der Geschichtsschreibung und des Geschichtsunterrichts, welche Legitimierungen oder auch kritische Sichtweisen verschaffen. In der empirischen Arbeit werden neben konventionellen text- und bildanalytischen Verfahren auch neue Methoden und Techniken der Diskursanalyse, der historischen Epistemologie, der Begriffsgeschichte, der strukturalen Hermeneutik, der Bild- und Filmanalyse und der Semiologie eingesetzt. Mit deren Etablierung ist es zu einer kulturwissenschaftlichen Erweiterung der Wirtschafts- und Sozialgeschichte gekommen, die Übergänge zur genuin sozial- oder wirtschaftsgeschichtlichen Forschung und Lehre bleiben dabei fließend.
Regionen überschreitende und globale Interdependenzen wurden durch die aktuellen Integrations- und Desintegrationsprozesse im Weltmaßstab in den Vordergrund gerückt. Die Tradition des Instituts, Epochen zu überschreiten und interkulturell zu vergleichen, begünstigt die Erfassung wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Wandels in verschiedenen Weltregionen. Dieser Schwerpunkt wird in Kooperation mit anderen Fächern (Geographie, Soziologie, Politologie sowie zahlreichen Area-Studies für Süd- und Ostasien, Afrika, Lateinamerika) betrieben. Er findet seinen Ausdruck in der Etablierung einer Professur "Internationale Wirtschafts- und Sozialgeschichte mit besonderer Berücksichtigung der Globalgeschichte" (Schwerpunkt Frühe Neuzeit), in regelmäßigen Ringvorlesungen zu außereuropäischen bzw. globalgeschichtlichen Themen sowie in der Teilnahme an den Studiengängen "Internationale Entwicklung", "Globalgeschichte" und "Global Studies". In diesem Zusammenhang wurden am Institut auch neue Publikationsreihen gegründet.
Geschichtsvermittlung als Ansatz untersucht und lehrt, wie das Wissen über wirtschafts-, sozial- und kulturgeschichtliche Entwicklungen im Interesse eines politisch bildenden, kritisch-kommunikativen und handlungsorientierten Bildungsauftrages aufbereitet und vermittelt werden kann. Sie versteht sich als angewandte Geschichtswissenschaft im Wechselspiel von unterrichtspraktischer Erfahrung und theoriegeleiteter Reflexion. In ihrer Besonderung als Fachdidaktik betreibt sie die Entwicklung und Vermittlung von theoretischen Grundlagen und unterrichtspraktischen Kompetenzen für Lehrende an allgemein- und berufsbildenden höheren Schulen, für Einrichtungen der Erwachsenenbildung, an historischen Museen und in Ausstellungen. Neue Medien und E-Learning werden im universitären und schulischen Geschichtsunterricht eingesetzt und entsprechende Online-Kurse sowie Blended Learning-Konzepte und -Anwendungen entwickelt. Die "prozessorientierte Geschichtsdidaktik" bezieht aktuelle Organisationstheorien, Theorien sozialer Systeme und Theorien sozialen Lernens mit ein. Mit dem Projekt Fachdidaktisches Zentrum "Geschichte, Sozialkunde und Politische Bildung" an der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät bestehen intensive personelle und informelle Verflechtungen.
Die Ausbildung von Lehrer/inne/n für das Fach Geschichte und Sozialkunde bzw. Geschichte, Sozialkunde und Politische Bildung fördert die Verknüpfung der sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Aspekte. Dies entsprach schon der sozialwissenschaftlichen Neuorientierung der Disziplin in den 1970er Jahren und fand Ausdruck in der Gründung der Lehrerfortbildungszeitschrift "Beiträge zur historischen Sozialkunde", die historisch-sozialwissenschaftliche Themen einem weit über die Fachkollegenschaft hinausgehenden Kreis vermittelt. An die Zeitschrift schlossen sich weitere Publikationen dieser Ausrichtung an, ebenso zahlreiche Aktivitäten zur Lehrerfortbildung. Didaktische Anstrengungen leiten auch das Engagement des Institutes in der Erwachsenenbildung. Die "Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen" und die auf ihrer Basis publizierte Editionsreihe von Zeugnissen der popularen Autobiographik "Damit es nicht verloren geht ..." sollen hier hervorgehoben werden. Wie das besondere Engagement in der Geschichtsvermittlung stellen sie eine Besonderheit des Instituts dar.
Das Institut versteht sich als "synergetischer Ort" der genannten Ansätze: Trotz der in den genannten Aspekten jeweils erforderlichen Spezialisierung in Theorien, Modellen, Methoden und Techniken sollen die wirtschafts-, sozial- und kulturgeschichtlichen Forschungen wie auch deren Didaktik in der akademischen Lehre zueinander anschlussfähig sein. Dies wurde bisher am Institut in zahlreichen Themenfeldern (wie der Geschichte der Nationsbildung, der Geschichte von Kolonialismus und Imperialismus, der Geschichte der Weltwirtschaft, der Geschichte sozialer und regionaler Ungleichheiten und Ungleichzeitigkeiten, der Stadtgeschichte, der Technikgeschichte, der Familiengeschichte, der Unternehmensgeschichte, der Bankengeschichte, der Geschichte des Bürgertums, der Agrargeschichte, der Konsumgeschichte, der Medizin- und Drogengeschichte, der Sexualitätsgeschichte, der Wissens- und Wissenschaftsgeschichte, der Ernährungsgeschichte, der Bevölkerungsgeschichte, der Alltagsgeschichte, der Historischen Anthropologie u.a.) realisiert. Einige dieser Arbeitsschwerpunkte werden in den nächsten Jahren weiter bearbeitet, andere werden hinzutreten. Da für die allermeisten bisherigen und künftigen Themen die Trias von Wirtschaftsform, sozialer Welt und Kulturproduktion denkbar und eine völlige Abtrennung eines Aspekts von korrespondierenden Aspekten ausdrücklich nicht erwünscht ist, ergibt sich ein integrales Profil für Forschung und Lehre am Institut.
Aktuelle Forschungen bzw. Forschungsprojekte von Mitarbeiter/inne/n des Instituts für Wirtschafts- und Sozialgeschichte können auf unserer Projektseite im Detail eingesehen werden.
Die Lehre der am Institut bediensteten Universitätslehrer/innen sowie der Lektor/inn/en erfolgt im Rahmen der Studienrichtung Geschichte (Studienzweig Geschichte und Studienzweig Geschichte und Sozialkunde, Lehramt an Höheren Schulen). Sie besteht in erster Linie aus Überblicks- und Speziallehrveranstaltungen zur europäischen Wirtschafts-, Sozial- und Kulturgeschichte aller Epochen und über Epochengrenzen hinweg. Säkulare sozialgeschichtliche Entwicklungen werden in Längsschnitten, synchrone Zusammenhänge und Interdependenzen in Querschnitten und Vergleichen präsentiert. Die außereuropäische Geschichte gewinnt im Lehrangebot zusehends an Gewicht. Die thematische Breite des Lehrangebots (siehe aktuelles Vorlesungsverzeichnis) spiegelt die weit gefächerten Forschungsinteressen der Institutsmitarbeiter/innen.
Ein Schwerpunkt der Lehre liegt auf der Grundausbildung in historisch-sozialwissenschaftlichen Methoden. Kontinuierlich werden Lehrveranstaltungen zur Computeranwendung in den Geschichtswissenschaften (Datenbanken, statistische Auswertungen, quellenorientierte Datenverarbeitung, historische Kartographie, Internetanwendungen für die historischen Wissenschaften), zu Interviewtechniken (narratives und lebensgeschichtliches Interview, Experteninterview u.a.) sowie zur Textanalyse (sequentielle Textanalyse, diskursanalytische Verfahren u.a.) angeboten.
Vorlesungen zur Wissenschaftstheorie sowie Seminare zur fachdidaktischen Ausbildung für den Studienzweig Geschichte und Sozialkunde (Lehramt) bilden weitere Schwerpunkte.
Im Rahmen der Ausbildung zum Lehramt an Höheren Schulen werden im dafür eingerichteten Schwerpunkt "Sozialkunde" regelmäßig interdisziplinäre Seminare angeboten, in denen die Studierenden Gelegenheit haben, sich mit den Diskursen, Theorien und Begriffen anderer Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften zum jeweiligen Thema vertraut zu machen.
Neben der universitären Lehre engagieren sich einige Mitglieder des Instituts auch in der Berufsweiterbildung (für Lehrer/innen, Sozialarbeiter/innen, Therapeut/inn/en u.a. Berufsgruppen) sowie in der Erwachsenenbildung.
Das Institut beteiligt sich mit vier Verträgen am Studierenden- bzw. Dozentenmobilitätsprogramm SOCRATES der Europäischen Union. Verträge bestehen mit dem Instituto Universiatrio Europeo (European University Institute) in Fiesole bei Florenz (IT), mit der Freien Universität Berlin (D) sowie mit der Univerzita Karlova (Karls-Universität) in Prag (CZ).
Publikationen am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte
Dem Forschungs- und Lehrschwerpunkt der Fachdidaktik entsprechend, werden seit den siebziger Jahren eine Zeitschrift zur Lehrerfortbildung und Geschichtsdidaktik (Beiträge zur historischen Sozialkunde, seit 2002 Historische Sozialkunde) sowie mehrere Textbuchreihen herausgegeben. Mitarbeiter/innen des Instituts sind maßgeblich an der Herausgabe und an den Redaktionen von wissenschaftlichen Zeitschriften beteiligt (u. a. Agricultural History Review, European History Quarterly, Historische Anthropologie, Journal of Global History, L'Homme, Österreich in Geschichte und Literatur - ÖGL, Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften - ÖZG). Von Mitarbeitern des Instituts werden die Sozial- und wirtschaftshistorischen Studien sowie die Biographische Reihe "Damit es nicht verloren geht..." herausgegeben.