Nachruf auf Herbert Knittler (7.5.1942–24.11.2023)

24.11.2023

Völlig unerwartet ist mit Univ.-Prof. Dr. Herbert Knittler am 24. November 2023 wieder einer der „Alten“ des Instituts von uns gegangen. Er war kein Blender, kein Selbstinszenierer, sondern ein penibler Forscher, sowohl bei kurzen Miszellen als auch bei großen Zusammenfassungen. Seine von manchen „Jungen“ unterschätzten Qualitäten beruhten auf der Entwicklung neuer Fragestellungen und Zugänge sowie auf der gründlichen Auswertung von bisher unbeachteten Archivbeständen im jeweiligen Forschungsfeld – eine aus der Perspektive manch neuer Paradigmen der Geschichtswissenschaften als konventionell betrachtete, aber zweifellos zu neuen Erkenntnissen führende Arbeitsweise.

Parte Herbert Knittler (pdf)

Herbert Knittler wurde am 7. Mai 1942 in Brünn geboren und im April 1945 mit seiner Mutter des Landes verwiesen. Er fand Aufnahme bei Verwandten in Weitra, absolvierte dort die Volkschule und maturierte 1961 mit Auszeichnung am Gymnasium Gmünd. 1961/62 inskribierte er an der Universität Wien die Fächer Geschichte und Kunstgeschichte und schloss sein Studium mit der Dissertation über „Beiträge zur Geschichte der Herrschaft Weitra von 1581 bis 1755“ am 26. Mai 1966 ab. (Parallel dazu dissertierten auch seine Klassenkameraden und lebenslangen Freunde Herwig Birklbauer und Wolfgang Katzenschlager, beide später AHS-Direktoren, über Weitra; 1983 sollte die Festschrift „800 Jahre Stadt Weitra“ die drei wieder zusammenführen.)

Als Universitätsprofessor Alfred Hoffmann im Zuge des Neuaufbaus des Instituts für Wirtschafts- und Sozialgeschichte bei der Österreichischen Akademie der Wissenschaften die Bildung einer Kommission für Wirtschafts-, Sozial- und Stadtgeschichte durchsetzte, wurde Herbert Knittler dort mit 1. Juli 1966 wissenschaftlicher Angestellter und übernahm die Redaktion der ersten beiden Bände des Österreichischen Städtebuchs. Damit waren die Weichen zu einem seiner lebenslangen Forschungsfelder gestellt. Nach dem Übertritt auf eine Assistentenstelle am 1. April 1971 ans Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte bereitete er zielstrebig seine Habilitation vor, die bereits am 16. Dezember 1974 erfolgte. Die Arbeit „Städte und Märkte“ entstand im Rahmen des von Michael Mitterauer geleiteten Forschungsprojekts „Herrschaftsstruktur und Ständebildung“. Obwohl dieses Vorhaben in der traditionellen Landesgeschichte auf teils heftige Kritik stieß, fand Knittlers Studie überwiegend Anerkennung.

Herbert Knittler war der letzte Habilitand unseres Instituts, der noch den Bestimmungen des HOG 1955 unterworfen war: Keine Defensio seiner Arbeit, sondern eine Art Prüfung durch das Professorenkollegium im Rahmen eines nicht-öffentlichen Verfahrens, eine Probevorlesung, für deren Thema kurzfristig ein Dreiervorschlag vorzulegen war. Er bestand bravourös, sein Vortrag über „Vorformen der Aktiengesellschaften“ wurde wohlwollend aufgenommen. Und die universitäre Karriere ging rasch aufwärts: Knapp fünf Jahre später, am 12. August 1979, erfolgte seine Ernennung zum ordentlichen Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte.

Großes internationales Renommee, das sich auch in der Tätigkeit bei Vereinen und in einer reichen Vortragstätigkeit im Ausland niederschlug, erlangte Herbert Knittler durch seine Arbeiten zur Stadtgeschichte vom Spätmittelalter bis ins ausgehende 18. Jahrhundert. Eine breite Palette von Themen reichte von Forschungen über städtische Finanzhaushalte, dynamische Faktoren von Stadtentwicklung, Zentralitätsfragen, Städtelandschaften, Kleinstädte, Stadt-Land-Beziehungen, städtische Führungsschichten bis hin zu Minderstädten,  Stadtansichten u.a.m. Sein opus magnum „Die europäische Stadt in der frühen Neuzeit“ (2000), eine groß angelegte Synthese, fand nicht nur im deutschsprachigen Raum eine breite Rezeption.

Einige stadtgeschichtliche Arbeiten standen im Überschneidungsbereich zur Regionalforschung. Ein frühes Beispiel bildet die Edition „Die Rechtsquellen der Stadt Weitra“ in der Reihe „Fontes Rerum Austriacarum, 3. Abt., Fontes iuris“, die bereits 1975 parallel zu Herbert Knittlers Habilitation erschien. Auch andere Publikationen rankten sich um seine Heimatstadt und das Waldviertel, so etwa ein Beitrag im Katalog der Niederösterreichischen Landesausstellung „Die Fürstenberger. 800 Jahre Herrschaft und Kultur im Mittelalter“ (1994), der gemeinsam mit Andrea Komlosy herausgegebene Band „Die Lainsitz“ (1999), ein Modell für interdisziplinäre und länderübergreifende Regionalforschung, oder die von ihm edierte „Wirtschaftsgeschichte des Waldviertels“ (2006). Diese auf das Waldviertel konzentrierte Themenwahl stand wohl auch mit Herbert Knittlers „multiplen Identitäten“ in Zusammenhang. Die Wintermonate verbrachte er nach seiner Heirat (1971) mit Gattin und Tochter in Linz, einer Stadt mit reichem kulturellem Angebot. Dann aber zog es ihn nach Weitra, in die Kleinstadt seiner Kindheit und Jugend, in sein romantisches Häuschen an der Stadtmauer, in eine kleine Sommerwohnung. Nur in Wien ist er als Pendler und Mieter von Kleinstwohnungen nie heimisch geworden, sieht man von Antiquitätengeschäften und manch gutem „Italiener“ ab, der ihn an seine bevorzugte Urlaubsdestination erinnerte.

Niederösterreich war auch Herbert Knittlers bevorzugtes Untersuchungsgebiet zum Themenkreis „Adel und Wirtschaft“. Auf der Grundlage eines bilanzierenden und zugleich konzeptionellen Artikels entwickelte er in den 1980er Jahren ein Forschungsprojekt, das auf der Auswertung von bislang weitgehend unbeachteten quantifizierbaren Massenquellen beruhte. Der 1989 veröffentlichte Band „Nutzen, Renten, Erträge“ befasste sich mit Feudaleinkommen und Herrschaftsstrukturen zwischen 1660 und 1770, mit den Geldeinnahmen von Besitzungen und der Bedeutung von grundherrlichen Eigenbetrieben. Weitere Mikroanalysen (etwa über Bierbrauereien und Teichwirtschaft) und über geistliche Grundherrschaften (eine Wirtschaftsgeschichte von Stift Melk) sollten folgen. 

Einige dieser neuen Forschungsergebnisse flossen in die Niederösterreichische Landesausstellung „Adel im Wandel. Politik – Kultur – Konfession“ (1990) ein, deren wissenschaftliche Leitung Herbert Knittler innehatte. Im Mittelpunkt stand die Rolle eines in sich differenzierten Adels im Übergang vom mittelalterlichen zum neuzeitlichen Staat, erläutert an Themenfeldern (mit einem Fokus auf Alltags- und Festkultur), verzahnt mit dem idealtypischen Lebenslauf eines Adeligen. Besucherzahl, mediales Echo und Interesse am Katalog unterstrichen den Erfolg dieser Exposition.

Bleibt nur noch zu ergänzen, dass damit das Thema patrimonialer Wirtschaftsführung und adeliger Lebensstil nicht abgeschlossen war. Bei internationalen Vergleichen war Herbert Knittler ein gesuchter Mitarbeiter. Darauf verweist neben anderen Aufsätzen auch seine Mitarbeit am Band „European Aristocrats and Colonial Elites“ (2005). 

Ein weiterer kontinuierlich verfolgter Arbeitsschwerpunkt Herbert Knittlers, eines Kenners der italienischen Kunst des Quattrocento und Cinquecento, bildete der Themenkomplex „Wirtschaftliche und funktionale Aspekte von Architektur“. Den Startschuss machte 1976 ein Aufsatz über die Interdependenzen zwischen den Bedürfnissen gesellschaftlicher Gruppen und architektonischer Formgebung im Mittelalter – ein Ansatz, der jenseits einer primär an formal-stilistischen Aspekten interessierten Kunstgeschichte noch überwiegend als Neuland galt und 1980 in einen umfangreichen Buchbeitrag („Bauen und Wohnen im Mittelalter“) mündete. Es folgten weitere Arbeiten über Architektur im Spannungsfeld von Gesellschaft, Ökonomie, Ästhetik, Funktionalität, Denkmalcharakter und Erhaltung. Seine Kompetenz wurde 1980 mit der Berufung in den Denkmalbeirat honoriert.

Darüber hinaus war Herbert Knittlers wissenschaftliches Œuvre aber auch durch mehrere ‚Nebenlinien‘ charakterisiert: Technik und Tier, Mittelalterarchäologie, Handels- und Verkehrsgeschichte, Handwerk und Gewerbe, Finanzgeschichte waren Themenfelder, in denen er aufgrund neu erschlossener Quellen anregende und wie stets solide Beiträge lieferte. Dazu kamen Überblicksaufsätze wie der Beitrag über die Habsburgermonarchie 1648–1848 im renommierten „Handbuch der europäischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte“ (1993).

Herbert Knittler war aber auch ein engagierter akademischer Lehrer, wenngleich zu seinem Leidwesen nicht alle Studierenden seine Qualitätsanforderungen erfüllten. Sein ausgeprägtes Interesse für Spätmittelalter und Frühe Neuzeit fügte sich optimal in die institutsinterne Aufgabenteilung. Auch die AbsolventInnen- und LehrerInnen-Fortbildung war ihm stets ein Anliegen. So wirkte er mehrere Jahre als Koordinator der 1971 gegründeten Zeitschrift „Beiträge zur historischen Sozialkunde“, für die er auch mehrfach Artikel zur Verfügung stellte.

Von seiner Tätigkeit im Rahmen der universitären Selbstverwaltung ist vor allem sein Wirken als Institutsvorstand in den Jahren 1993 bis 1996 hervorzuheben. In einer durch verschiedene Umstände schwierigen Phase waren seine Umsicht, sein aufopfernder Einsatz, sein diplomatisches Geschick und seine Souveränität von unschätzbarem Wert. Seine Identifikation mit dem Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte galt stets der Gemeinschaft der dort Beschäftigten und nicht einer Institution, die bloß als Instrument einer persönlichen Karriere diente. Nicht nur ich habe seine Hilfsbereitschaft, seine Uneigennützigkeit und seine Zuverlässigkeit erfahren und schätzen gelernt – Letzteres übrigens auch schon früh in seiner Rolle als robuster Verteidiger im durchaus erfolgreichen Fußballteam des Instituts.

„Aufgrund privater Motive, nicht zuletzt aber auch unter Berücksichtigung der sich im Rahmen der Universitäten vollziehenden Veränderungen“ trat Herbert Knittler mit Ablauf des 30. September 2003 frühzeitig in den Ruhestand. Eine technokratisch-hierarchische Institution mit wachsenden bürokratischen Zumutungen und Formalismen besaß nicht nur für ihn keine Anziehungskraft mehr. Die Würdigung seiner Verdienste durch Ehrenzeichen seiner Heimatstadt Weitra sowie der Bundesländer Niederösterreich und Wien bedeuteten für ihn eine Bestätigung seines Wirkens. In der Pension konnte Herbert Knittler seine in den 1970er Jahren begonnene Sammeltätigkeit von österreichischem Gebrauchsglas aus dem 17. bis 19. Jahrhundert fortsetzen und die Bestände 2016 in dem repräsentativen Band „Klarheit und Vielfalt. Österreichisches Formglas aus drei Jahrhunderten“ der Öffentlichkeit vorstellen. Seine nunmehr zwanglose wissenschaftliche Tätigkeit fand in mehreren (Buch-)Publikationen mit regional- und stadtgeschichtlichen Schwerpunkten ihren Niederschlag. Doch nicht mehr alle seine Pläne ließen sich verwirklichen …

                                                                                                                              Hannes Stekl 

Anlässlich des 70. Geburtstages von Herbert Knittler schrieb Hannes Stekl bereits eine Würdigung für seinen Kollegen: Hannes Stekl, Herbert Knittler – 70 Jahre (pdf), in: Das Waldviertel 61/2 (2012), S. 99-112.



1975, Proseminar-Exkursion nach Retz, rechts Herbert Knittler (in der Mitte Michael Mitterauer). Foto: M. Zahradnik