Nachruf (24.8.2022)
Michael Mitterauer hatte einen klassischen Hintergrund: Schottengymnasium in Wien, mediävistische Ausbildung am Institut für Österreichische Geschichtsforschung, Dissertation zum Thema „Karolingische Markgrafen im Südosten. Fränkische Reichsaristokratie und bayerischer Stammesadel im österreichischen Raum“, 1963 veröffentlicht, und die Habilitation über die mittelalterliche Wirtschaftsverfassung einer österreichischen Altsiedellandschaft zum Thema „Zollfreiheit und Marktbereich“, 1969 im Druck erschienen. Darin zeigt sich allerdings bereits sein Interesse an theoretischer Fundierung und am Aufspüren sozialer Zusammenhänge und Erklärungen. Die in dieser Zeit erworbenen Kenntnisse, Kompetenzen und der Wissensfundus waren eine wichtige Grundlage seines wissenschaftlichen Arbeitens bis zuletzt – seinen Lebensweg als Historiker haben sie jedoch nur zum Teil partiell vorgespurt: Denn seine Projekte und Initiativen, seine Vorträge und die äußerst zahlreichen Publikationen führten zeitlich bis in die Gegenwart, waren in internationale Forschungszusammenhänge eingebunden und stießen auf breite internationale Resonanz. Interdisziplinarität war für ihn gelebte wissenschaftliche Praxis in Forschung und Lehre, und er hatte eine große Passion für den interkulturellen Vergleich. Öfters erwähnt hat er, dass seine Maturaprüfung auf den Tag der Unterzeichnung des Staatsvertrages am 15. Mai 1955 fiel, mit dem Österreich „frei“ wurde (Leopold Figl), oder dass beim Antritt seiner Stelle zunächst einige Monate als wissenschaftliche Hilfskraft und nach der Promotion im März 1960 als Assistent am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte die einzige personelle Kontinuität in diesem neuen Abschnitt seiner wissenschaftlichen Karriere die Reinigungskraft war. Aus alledem lässt sich vielleicht ein Leitmotiv ablesen, das für sein Agieren im wissenschaftlichen Feld ebenso prägend war wie für seine geschichtswissenschaftlichen Themen und Zugänge: die Bedeutung von Freiräumen, von Räumen, die gestaltbar waren, von offenen Denk- und Diskussionsräumen.
Gestaltungsräume hat er sehr gut verstanden zu nutzen, und es war ihm ein Anliegen, solche Räume auch selbst zu schaffen. Dies kam über all die Jahrzehnte sehr vielen in seinem wissenschaftlichen Umfeld zugute und sie konnten dabei auch ihrerseits vieles mitgestalten: Diplom- und Lehramtsstudierende, die sehr zahlreichen und international zusammengesetzten Doktorand*innen, die Projektmitarbeiter*innen, die an Fortbildung interessierten Lehrer*innen, aus ihrem Leben Erzählende und autobiografisch Schreibende und nicht zuletzt die Kolleg*innen vor Ort, an anderen österreichischen Universitäten und international von Bulgarien, Serbien und Griechenland über Deutschland, Großbritannien bis in die USA, von Skandinavien bis Italien und darüber hinaus, mit denen er im Austausch und/oder in vielfältigen Kooperationen und Arbeitszusammenhängen stand.
Sein Verständnis von Geschichte hat er auch in eine breitere Öffentlichkeit getragen, über Medien, die „Wiener Vorlesungen“ oder die Buchreihe „Damit es nicht verloren geht …“. Die Öffentlichkeit hat Michael Mitterauer adressiert, wenn er sich bereits Ende der 1960er Jahre für die Neugestaltung der Lehrer*innenausbildung einsetzte, mit den „Beiträgen zur Historischen Sozialkunde“ 1971 eine entsprechende Zeitschrift mitbegründete und als das Schulfach Geschichte und Sozialkunde um Politische Bildung erweitert wurde, sich als Mitinitiator von Fortbildungsseminaren für Lehrer*innen engagierte, aus denen später der Hochschullehrgang „Politische Bildung“ entstanden ist. In diesem Rahmen arbeiteten Sozialhistoriker*innen, Politikwissenschaftler*innen, Zeithistoriker*innen, Soziolog*innen und nicht zuletzt Gruppendynamiker*innen zusammen. Bei allen diesen Aktivitäten hatte Michael Mitterauer die Unterstützung einer Gruppe jüngerer Kollegen, die alle um 1970 am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte Assistenten geworden waren, und die gemeinsam mit ihm dem Weg von der Mittelalterforschung zu neuzeitlichen und gegenwartsbezogenen Themen folgten und mit ihm das Interesse an einer Neuorientierung der Sozialgeschichte teilten: Ernst Bruckmüller, Hannes Stekl, Peter Feldbauer, Herbert Knittler, Roman Sandgruber und später Birgit Bolognese-Leuchtenmüller. Diese Gruppe hat auch wesentlich dazu beigetragen, dass am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte jene produktive und integrative Arbeitsatmosphäre entstand, die bis heute prägend ist und in der sich Mitterauers spätere Projekte etablieren und entfalten konnten. Die breitere Öffentlichkeit hatte Michael Mitterauer aber auch im Blick, wenn er die gesellschaftliche Relevanz von geschichtswissenschaftlicher Forschung reflektierte, betonte und einforderte.
Michael Mitterauer studierte von 1955 bis 1959 Geschichte und Kunstgeschichte an der Universität Wien und promovierte 1960 mit der höchsten Auszeichnung sub auspiciis praesidentis. Er habilitierte sich 1968 am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Dort wurde er 1971 auf die in Zusammenhang mit dem Lehrplan für das erweiterte Schulfach „Geschichte und Sozialkunde“ neu geschaffene außerordentliche Professur für Sozialgeschichte berufen, die 1973 in eine Ordentliche Professur für Sozialgeschichte umgewandelt wurde. Mit dem Wirtschaftshistoriker Alfred Hoffmann (1904–1983) hatte er dort einen Institutsvorstand, dessen Liberalität die idealen Voraussetzungen für die „Wiener Wege der Sozialgeschichte“ schuf.
Die Sozialgeschichte der Familie, die er als jung berufener Professor in einer sozialhistorischen Aufbruchszeit als Schwerpunkt setzte, war sicher einer seiner umfassendsten und nachhaltigsten Gestaltungsräume. Sie brachte ihm und dem Institut viel internationales Renommee sowie eine Reihe von Auszeichnungen. Seine ersten Publikationen zu diesem Themenbereich erschienen 1973: der Aufsatz „Zur Familienstruktur in ländlichen Gebieten Österreichs im 17. Jahrhundert“, der einleitende Text „Familie als historische Sozialform“ und der folgenreiche Text „Der Mythos von der vorindustriellen Großfamilie“ in den „Beiträgen zur historischen Sozialkunde“. Nur wenige Jahre später verfasste er gemeinsam mit Reinhard Sieder den richtungsweisenden Band „Vom Patriarchat zur Partnerschaft“: erstmals 1977 und in drei weiteren Auflagen im Münchner Beck-Verlag sowie 1983 in englischer Übersetzung und wiederum in mehreren Auflagen in Oxford bei Blackwell erschienen. Weitere grundlegende Bücher folgten innerhalb der nächsten zehn Jahre: der gemeinsam mit Reinhard Sieder herausgegebene Suhrkamp Wissenschaft-Band „Historische Familienforschung“ (1982), „Ledige Mütter“ (1983), „Sozialgeschichte der Jugend“ (1986) oder der gemeinsam mit Josef Ehmer herausgegebene Band „Familienstruktur und Arbeitsorganisation in ländlichen Gesellschaften“ (1986). Die maßgeblich von Michael Mitterauer mitbegründete Historische Familienforschung hatte zum Ziel, Familie zu historisieren, das heißt Familie in ihren unterschiedlichen Formen, Zusammensetzungen und Veränderungen mit raum-, zeit- und sozial differenzierten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kontexten in Verbindung zu setzen und damit naturalisierende ebenso wie harmonisierende Geschichtsbilder zu hinterfragen und zu demontieren.
Möglich war dieser produktive Aufbruch nicht zuletzt deshalb, weil Michael Mitterauer als einer der ersten Geistes- und Sozialwissenschaftler in Österreich die Potenziale der Drittmittelförderung erkannte und nutzte, die der 1968 gegründete Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung FWF, aber auch andere Fördergeber wie die Volkswagenstiftung eröffneten. Damit konnten nicht nur neue Themen gesetzt, Quellen erschlossen und neue Methoden erprobt, sondern auch Stellen für Doktorand*innen und Postdoktorand*innen am Institut geschaffen werden, die in der damaligen Stellenstruktur sonst undenkbar gewesen wären. So liefen am WISO bereits ab 1973 Projekte zur Sozialgeschichte der Familie, die mit dem auf fünf Jahre angelegten und aus sieben Teilprojekten bestehenden Projekt zum Thema „Familie im sozialen Wandel. Historisch-soziologische Untersuchungen zu strukturellen und funktionalen Veränderungen der Familie in den letzten Jahrhunderten“, finanziert vom FWF, ab 1979 eine bedeutsame personelle und interdisziplinäre Erweiterung erfuhren. Sie bauten gleichermaßen auf internationalem Austausch – unter anderem mit Karin Hausen, Olga Katsiardi-Hering, Hans Medick und Heidi Rosenbaum oder mit Peter Laslett (1915–2001), Richard Wall (1944–2011) und anderen von der Cambridge Group of the History of Population and Social Structure – auf wie sie ihrerseits zur Internationalisierung beitrugen: im Austausch und in Form von gegenseitigen Forschungsaufenthalten, auch von Projektmitarbeitern, zu denen damals Josef Ehmer und Reinhard Sieder gehörten. Dies schuf die Grundlage für ein weiteres großes Forschungsprojekt zum „Strukturwandel der Familie im europäischen Vergleich“, finanziert Ende der 1980er Jahre von der Volkswagen-Stiftung; hinzu kam das Projekt „Quantifizierung in der historischen Forschung und Lehre und im computerunterstützten Geschichtsunterricht“. In diesen Projektzusammenhängen arbeitete Franz X. Eder mit. Hier wurden Seelenbeschreibungen und Volkszählungslisten gesammelt und, in den Anfängen noch mit Lochkarten, in die „Wiener Familiendatenbank“ eingespeist – ein Pionierprojekt der Quellenerschließung, das quantifizierende Zugänge und die Grundlage für die von der Cambridge Group geprägten Forschungen zu Haushaltsstrukturen lieferte. Weitere Projekte der Folgezeit hatten unter anderem die Sozialstrukturen auf dem Balkan, die Jugend auf dem Balkan sowie Migrantenfamilien aus dem ehemaligen Jugoslawien und aus der Türkei in Wien zum Thema.
Wie an Michael Mitterauers Publikationsliste abzulesen ist, zeigte er stets Offenheit: zeitlich, räumlich, aber auch in Hinblick auf unterschiedliche Forschungsbereiche – so auch in Richtung der sich etablierenden Frauen- und Geschlechtergeschichte. Er schrieb vor allem wichtige Beiträge zu Aspekten der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung. Neben Karin Hausen waren Edith Saurer (1942–2011) und Angiolina Arru hier wichtige Diskussionspartnerinnen – wie auch bei der Neuorientierung in Richtung Historische Anthropologie. Die Oral History und die Entdeckung von autobiographischen Texten als reiche und wertvolle Quellen der Sozialgeschichte, die Einblicke in lebensweltliche Erfahrungen, in Vorstellungen und persönliche Wahrnehmungen ermöglichten, beförderten zusammen mit einer gewissen Unzufriedenheit an strukturellen Zugängen und mit der Annäherung an ethnologische Arbeitsweisen in den 1980er Jahren einen Paradigmenwechsel in Richtung Kulturgeschichte. Ein Ausdruck dessen ist die Historische Anthropologie. Michael Mitterauer wurde zu einem ihrer prononcierten Vertreter. Und auch dies eröffnete wiederum neue Orte und Diskussionsräume. Bereits Anfang der 1980er Jahre gründete Michael Mitterauer die „Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen“, die seitdem Lebenserinnerungen und andere Selbstzeugnisse sammelt und, seit rund 20 Jahren geleitet von Günter Müller, beständig weiterwächst. Im Februar und März 1993 fand in Otzenhausen ein gemeinsam mit Richard van Dülmen (1937–2004) organisierter zweiwöchiger Studienkurs mit fast 30 international zusammengesetzten Teilnehmer*innen statt, der der Auseinandersetzung mit der Historische Anthropologie als einer neuen Forschungsrichtung gewidmet war. Gemeinsam mit Richard van Dülmen, Alf Lüdtke (1943 –2019) und Hans Medick hatte Michael Mitterauer im Juni 1992 den Vertrag mit dem Böhlau-Verlag unterzeichnet, mit dem die Zeitschrift „Historische Anthropologie. Kultur – Gesellschaft – Alltag“ gegründet wurde, die 1993 als sichtbares Zeichen für das Potenzial der neuen Herangehensweisen im ersten Jahrgang erschien. Zum Herausgeber*innenteam der Anfangsjahre gehörten neben den Vertragsunterzeichnern weitere Historiker*innen verschiedener Epochen und Profile sowie Empirische Kulturwissenschaftler*innen: Egon Flaig, Utz Jeggle (1941–2009), Ludolf Kuchenbuch, Rolf Lindner, Ute Luig, Jan Peters (1932–2011), Edith Saurer, Martin Schaffner, Norbert Schindler und Heide Wunder. Die Historische Anthropologie brachte Michael Mitterauer auch in engen Kontakt mit dem Althistoriker Jochen Martin und dessen Team am Institut für Historische Anthropologie in Freiburg und intensivierte die Kooperation mit Hubert Christian Ehalt in Wien.
Über eine neue Förderschiene des FWF wollte Michael Mitterauer ein interdisziplinäres Graduiertenkolleg „Historische Anthropologie“ einrichten, die allerdings noch vor der ersten Genehmigungsrunde eingefroren wurde. Das Interesse war jedoch so groß, dass das Graduiertenkolleg als dissertationsbegleitendes Programm dennoch ab Herbst 1996 über vier Semester in Kooperation mit Karl Kaser (1954–2022) vom Institut für Südosteuropäische Geschichte der Universität Graz stattfand. Es prägte eine Kohorte von Doktorand*innen, von denen ihm einige zeitlebens verbunden blieben. Dazu gehören Wolfram Aichinger vom Institut für Romanistik, mit dem er die Leidenschaft für Namen, Heiliges und die habsburgisch-spanische Welt teilte, und Gert Dressel, der zunächst als Tutor Lehrveranstaltungen von Michael Mitterauer begleitete und in der Folge in zahlreichen Kontexten mit ihm zusammengearbeitet hat, darunter bei Gesprächskreisen im Pensionistenheim Ottakring. 1996 veröffentlichte Dressel das Buch „Historische Anthropologie. Eine Einführung“ bei Böhlau, die die damalige Wiener Historische Anthropologie breiter kontextualisierte und zugleich Grundlage seiner Dissertation war. Gemeinsam mit Katharina Novy organisierte er das Kollegforum, das Herzstück des Graduiertenkollegs. Das damals noch neue Junior Fellowship-Programm am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK) war 1997 der Historischen Anthropologie gewidmet und bot einer Gruppe aus dem Kolleg ein intensiviertes Diskussionsforum, in das die Familienhistorikerin Tamara Hareven (1937–2002), eine weitere wichtige Wegbegleiterin von Michael Mitterauer, neben anderen als Senior Fellow involviert war. Das Graduiertenkolleg schuf auch die Grundlage für eine Gruppe von (Post-)Doktorand*innen, die beim Forschungsschwerpunkt Kulturwissenschaften / Cultural Studies des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Kultur Ende der 1990er Jahre erfolgreich ein Projekt „Historisch-Anthropologische Kulturforschung“ (1999 und 2000) einreichte und aus der weitere, von Michael Mitterauer geleitete Projekte hervorgingen, darunter das von Gert Dressel und Nikola Langreiter bearbeitete FWF-Projekt „Reflexive Historische Anthropologie“.
Der zentrale Ort des Graduiertenkollegs und der genannten Projekte war das – inzwischen abgewickelte – Interuniversitäre Institut für Interdisziplinäre Forschung und Fortbildung (IFF), damals noch in der Westbahnstraße 40 in Wien. Der Soziologe Gerhard Strohmeier leitete dort den Bereich „Raum und Ökonomie“ und beherbergte auch vorher schon das semesterweise in Doppelconférence abgehaltene „Diplomanden- und Dissertantenseminar“ von Michael Mitterauer. Ein Arbeitsbereich „Historische Anthropologie“ konnte in der Folge dort eingerichtet werden. Aus den Räumen der Universität hinauszugehen, für gewisse Formate andere Orte aufzusuchen, die den Diskussionen andere Richtungen geben konnten, war für Michael Mitterauer Programm. Dazu zählen auch die Winter Balkan Meetings als weiteres Doktorand*innenforum, die in Kooperation mit Karl Kaser sowie mit Kristina Popova und ihren Kolleg*innen in Bulgarien – in Pansko und später in Blagoevgrad – als „International School in Historical Anthropology“ in der zweiten Hälfte der 1990er und Anfang der 2000er Jahre stattgefunden haben.
Südost- und Osteuropa waren Räume, auf die sich das wissenschaftliche Interesse von Michael Mitterauer in verschiedenen Zusammenhängen immer wieder gerichtet hat. Insbesondere nach 1989 war ihm eine gezielte Integration des europäischen Wissenschaftsraumes ein großes Anliegen. Ein letztes großes Projekt, zu dessen Leitungsteam Michael Mitterauer und Josef Ehmer gehörten, war eine Kooperation mit tschechischen Universitäten und Archiven, mit dem Collegium Carolinum in München und dem Max-Planck-Institut für Geschichte in Göttingen: das von der Volkswagenstiftung finanzierte und federführend von Markus Cerman (1967–2015) getragene Projekt zu „Sozialstrukturen in Böhmen in der Frühen Neuzeit“, das 1992 mit einer Pilotphase einsetzte und von 1996 bis 1999 lief.
Der interkulturelle Vergleich war Michael Mitterauer auch schon in den engeren familienhistorischen Zusammenhängen sehr wichtig und begleitete ihn als Aspekt, der ihn zusehends umtrieb durch die Jahrzehnte: der Vergleich mit anderen Gesellschaften, Kulturen, Religionen, Namengebungs- oder Verwandtschaftssystemen. Dabei war er stets auf der Suche nach Erklärungspotenzial für markante Unterschiede und für das Spezifische des westeuropäischen Weges, die er in seinem 2003 erschienenen Buch „Warum Europa?“ schwerpunktmäßig thematisiert, für das er 2004 den Deutschen Historikerpreis erhielt. Er sah diese oft schwierigen Auseinandersetzungen auch als Herausforderung, um neue Perspektiven und um Schnittstellen für den Dialog aufzuzeigen – vor allem in Hinblick auf Migrant*innen. Seine Expertise brachte er unter anderem in politische Entscheidungsprozesse ein: als es etwa im Kontext flüchtlingspolitischer Regelungen im Gefolge des Jugoslawienkrieges darum ging zu definieren, wer alles zu einer Familie gehört. Solche Perspektivwechsel sensibilisierten ihn auch schon früh für die Problematik von Jubiläen, insbesondere des 300-Jahrtages der sogenannten „Türkenbefreiung“, der 1983 bevorstand und Gefahr lief, dass Kinder von Migrant*innen aus der Türkei im Schulunterricht unreflektiert damit konfrontiert werden.
Michael Mitterauer war ein begeisterter Historiker, der seine Faszination für sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Themen in seinen Texten, Büchern, Vorträgen und vor allem auch im universitären Unterricht sehr lebendig vermitteln konnte. Seine Assoziationsfähigkeit war ebenso legendär wie seine „Einführung in das Studium der Geschichtswissenschaft“, jahrelang im Wintersemester am Dienstag um 8.30 Uhr. Diese ließ mitunter Gruppen entstehen, die durchs Studium hindurch und manchmal weit darüber hinaus fortbestanden – wie jene um Angelika Klampfl, die Michael Mitterauer auch noch viele Jahre nach seiner Emeritierung zum vorweihnachtlichen Punsch und zu Keksen mit der „Einführungsgruppe“ einlud. Am anderen Ende des Qualifikationsfeldes stehen 62 abgeschlossene Dissertationen, die er zwischen 1970 und 2007 betreut hat und die durch seine zugleich fordernde und fördernde Art zahlreiche akademische Wege maßgeblich geprägt haben – auch meinen. Michael Mitterauer war ein äußerst produktiver Historiker. In seiner Laudatio aus dem Jahr 2004 zählte Johannes Fried 18 Bücher – weitere sollten hinzukommen; der Katalog der Regesta Imperii nennt 147 Titel bis 2019; die Liste auf der Instituts-Website zählt einschließlich von Vorworten, Presseartikeln und den online-Beiträgen aus den letzten Jahren im „Austria Forum“ über Christina Lutter und im „Aviso de Viena“ von Wolfram Aichinger über 350 Veröffentlichungen – und auch sie weist da und dort sicher noch Lücken auf. Übersetzt wurden etliche seiner Publikationen ins Bulgarische, Englische, Griechische, Italienische, Japanische, Schwedische und Serbische. Zu seinem 65. Geburtstag 2002 wurde in Anerkennung seines wissenschaftlichen Lebenswerkes und seines Einsatzes für die Nachwuchsförderung der Michael-Mitterauer-Preis für Gesellschafts-, Kultur- und Wirtschaftsgeschichte ins Leben gerufen und erstmals vergeben. Auswahlprozess und Verleihung organisiert Annemarie Steidl seit Jahren federführend, zuletzt gemeinsam mit Michaela Hafner. Vieles gäbe es noch zu sagen, viele Wegbegleiter*innen könnten noch genannt werden.
Lieber Michael, wir hätten sehr gerne mit Dir gefeiert in diesem Jahr: 30 Jahre „Historische Anthropologie“ im Mai, Deinen 85. Geburtstag im Juni, 50 Jahre „Sozial- und wirtschaftshistorische Studien“ und 40 Jahre „Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen“ am 30. September zusammen mit „100 Jahre WISO“ – auch wenn Du Jubiläen kritisch gegenübergestanden bist und vor einiger Zeit gemeint hast, dass man die 100 Jahre so nicht zählen könne. Wir denken an Dich!
Margareth Lanzinger
im Namen des Instituts für Wirtschafts- und Sozialgeschichte
Quellen und Verweise:
Johannes Fried, Laudatio auf den Preisträger, in: Jahrbuch des Historischen Kollegs 2005, München 2006, 15-24.
Michael Mitterauer, Wiener Wege der Sozialgeschichte. Rückblick und Ausblick (Rede zum 50. Jahrestag seine Promotion), unter: Austria Forum, https://austria-forum.org/web-books/docwienerwege00deisds
http://opac.regesta-imperii.de/lang_en/autoren.php?name=Mitterauer%2C+Michael
https://wirtschaftsgeschichte.univie.ac.at/menschen/emeritierte-und-im-ruhestand-befindliche/mitterauer-michael/
Hinweis:
Am 15. September 2022 um 16.00 Uhr wird in der Pfarrkirche Dornbach, 1170 Wien, Rupertusplatz 3 eine Auferstehungsmesse gefeiert.
Parte Michael Mitterauer (pdf)
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